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47 1980* 2019* BEWEGUNG IST EIN GRUNDBEDÜRFNIS UND EIN KULTURGUT Die Rolle, die körperliche Aktivität für eine gesunde körperliche, psychosoziale und geistige Entwicklung von Kindern und Jugendlichen spielt, ist unbestritten (Graf et al. 2015, Timmons et al 2012). Bewe- gung ist nicht nur für die (sport-)motorische Entwicklung bedeutend. Über vielseitige, selbstwirksame und spontane Spiel- und Bewegungsaktivitäten bauen Kinder und Jugendliche auch geistige und sozial-emo- tionale Handlungskompetenzen auf. Sie bilden die Grundlage der gesamten Persön- lichkeitsentwicaklung und sind deshalb für Gesundheit, Bildung und Sozialkompetenz im Erwachsenenalter entscheidend. Bewe- gung ist mehr als nur Sport. Vielmehr bildet sie eine übergreifende didaktische Klammer für die Förderung von Lernfertigkeit, Sprach- kompetenz, sozialen Fähigkeiten und der Gesundheitsfürsorge. IN INNENRÄUMEN BEWEGUNGSRAUM SCHAFFEN Heute verbringen Heranwachsende in Kin- dergärten, Schulen, Ganztagseinrichtungen und Freizeit mehr Zeit in geschlossenen Räu- men als früher. Die Räume sollten deshalb so gestaltet sein, dass sie bedarfsgerechte und entwicklungsfördernde Bewegung nicht nur ermöglichen, sondern regelrecht einfordern (Verhältnisprävention). So sollte beispiels- weise der Lern- und Lebensraum Schule ein Ort sein, in dem SchülerInnen nur wenig Zeit mit Stillsitzen verbringen. Offene Lern- situationen, schülerzentriertes Lernen sowie wechselnde Sozial- und Organisationsformen sorgen automatisch dafür, dass SchülerInnen ihre Körperhaltungen häufig wechseln und an vielfältige Situationen anpassen und dass sie in den Innen- und Außenräumen einer Schule ständig in Bewegung sind. Voraus- setzung dafür ist, dass Lehrkräfte innovative pädagogische Konzepte anbieten und die Schule so angelegt und eingerichtet ist, dass physiologische Bewegungsanreize entste- hen. Die Schulmöbel sollten so gestaltet sein, dass sie an unterschiedlichen Orten für vielfältige Lernerfordernisse eingesetzt werden können. Das heißt, sie sollten starres Sitzen verhindern und stattdessen aktiv-dy- namisches Sitzen ermöglichen. Dazu gehö- ren auch mobile Stehpulte und „Stehinseln“, die immer wieder Anreize dafür bieten, die Körperhaltung zu wechseln. Grundsätzlich ist wünschenswert, dass die Möblierung in den Lern- und Freizeiträumen so gestaltet ist, dass SchülerInnen bei der Bearbeitung von Aufgaben die größtmögliche Bewegungs- freiheit haben. Dazu gehört auch, sich auch einmal auf den Boden setzen oder legen zu können. Damit ist ein erster wichtiger Schritt zu einem bewegten Lebensalltag getan. Seit einigen Jahren beschäftigen sich auch HirnforscherInnen intensiv damit, welchen Einfluss die Raumgestaltung auf strukturelle und funktionale Veränderungsprozesse im Gehirn hat. In Tierexperimenten konnte man sehen, dass reizreichere und heraus- fordernde Raumumgebungen, auch als „enriched environment“ bezeichnet, das Wohlbefinden, die Lernleistung und die Anpassungsfähigkeit des Gehirns fördern (Ickes et al. 2000). Somit wird deutlich: Raum und Mensch beeinflussen sich gegenseitig – Räume bilden und werden gebildet; Räume gestalten und werden gestaltet; Räume schaffen Gelegenheiten für Verhalten, indem sie Handlungsspielräume öffnen oder ver- schließen. Oder auch: Verhältnisse verführen zu Verhaltensweisen. JEDE BEWEGUNG ZÄHLT Je weniger Kinder und Jugendliche sitzen und je mehr sie sich in vielseitiger Weise be- wegen, desto besser ist das für ihre körper- lichen und geistigen Entwicklungsprozesse. Es gilt heute als unumstritten, dass Kinder ab dem Grundschulalter eine tägliche Be- wegungszeit von mindestens 90 Minuten in moderater bis hoher Intensität erreichen soll- ten (Graf et al. 2015, Graf et al. 2014). 60 Mi- nuten davon können durch Alltagsaktivitäten abgedeckt werden. Außerdem sollten sie mindestens 12.000 Schritte am Tag zurückle- gen (Adamas et al. 2013). Je mehr und regel- mäßiger sich Heranwachsende bewegen, desto höher wird auch der gesundheitliche Nutzen angenommen. Darüber hinaus wird empfohlen, dass sie an drei und mehr Tagen pro Woche die großen Muskelgruppen an- gemessen beanspruchen. Das verbessert die Muskelkraft, erhöht die Knochendichte und fördert die Herz-Lungen-Gesundheit. Dabei kommt dem Schulweg eine besondere Be- deutung zu. Er sollte zu Fuß oder mit dem Fahrrad zurückgelegt werden. Ein sicherer Weg zur Schule ist für Kinder und ihre Eltern häufig die erste Voraussetzung dafür, dass die Kinder zu Fuß oder mit dem Fahrrad zur Schule kommen. Diese Fortbewegungsarten fördern die Bewegungsaktivität und somit die Gesundheit der Kinder und stärken sie in ihrer Selbstständigkeit. Sie lernen auf dem Weg zur Schule ihre Umgebung kennen, neh- men die Umwelt deutlicher wahr und können sich dadurch besser in der Stadt orientieren. Außerdem sind die Kinder, die zu Fuß oder mit dem Fahrrad zur Schule kommen, im Unterricht aufmerksamer. DIE AKTION GESUNDER KINDERRÜCKEN Wie Umgebungen und Räume (Verhältnisse) die Entwicklung von Kindern und Jugend- lichen fördern, steht im Fokus der Aktion Gesunder Kinderrücken. Sie basiert auf der langjährigen Kooperation der Bundesarbeits- gemeinschaft für Haltungs- und Bewegungs- förderung e. V. (BAG) und der AGR e. V. Dabei steht mehr als „nur“ der Rücken im Mittelpunkt. Alle Aspekte, die den hoch- komplexen und miteinander verflochtenen körperlichen, geistigen und psychischen Reifungsprozessen Rechnung tragen, finden darin Platz. Das Ziel der Aktion Gesunder Kinderrücken ist, dass Kinder und Jugend- liche unter Bedingungen aufwachsen, leben und sich entwickeln können, die ihnen einen gesunden Lebensstil ermöglichen. Weil gerade der sich entwickelnde Organismus sensibel auf sein entsprechendes Lebens- umfeld reagiert. Bewegungsanreize und ergonomische Verhältnisse, die auf die physiologischen Erfordernisse von Kindern zugeschnitten sind, sind für die Aktion Ge- sunder Kinderrücken die grundlegende Vor- aussetzung für eine gesunde körperliche und geistige Entwicklung. Die Aktion Gesunder Kinderrücken leistet einerseits Aufklärungs- arbeit bei ErzieherInnen, LehrerInnen, Eltern und medizinischem und therapeutischem Fachpersonal. Andererseits will sie die Indus- trie für gesunde Entwicklungsprozesse bei Kindern und Jugendlichen sensibilisieren, damit die Abteilungen, in denen Produkte entwickelt werden, elementare Anforderun- gen an entwicklungsfördernde Verhältnisse für Kinder umsetzen können. Die dafür im folgenden definierten Qualitätsanforderun- gen sind eine wichtige Orientierungshilfe für Entscheidungsträger. * Die Grafiken zeigen die Verhaltensänderung von Heranwachsenden seit 1950. Immer weniger Bewegung, immer längere Sitzzeiten.

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