Interdisziplinäre Fachbeiträge 20 AGR aktuell 2024/72 | Aktion Gesunder Rücken e. V. Stürze auf das Gesäß sind nicht nur schmerzhaft, sondern können sich auch, mit zeitlich längerer Verzögerung, als Beckenringstörung manifestieren. Die Formen von ISG-Blockierungen können in einer qualifizierten Anamnese erfragt, funktionell untersucht und diagnostiziert werden. Zur Therapie eignen sich besonders Aspekte aus der Manuellen Medizin, der parietalen Osteopathie und der Physiotherapie. Gerade das Fachwissen um neuroorthopädische Zusammenhänge ist hilfreich, um diesen komplexen, biomechanischen und physiotherapeutischen Anforderungen Rechnung zu tragen. Neuroorthopädie zeichnet sich durch reversible, also umkehrbare Funktionsstörungen, die Bewegungssteuerung von Gelenken und der Muskulatur sowie des faszialen Gewebes aus. Die häusliche Mitarbeit des Betroffenen sichert den Therapieerfolg. Am Beispiel der traumatischen Veränderungen, nicht nur des Beckenrings, zeigt die Autorin die Konsequenzen, den Verlauf und die Therapie auf. Anamnese und die funktionellen Konsequenzen Ein Sturz auf die rechte Gesäßhälfte trifft dort in der Regel das Tuber ischiadicum. Biomechanisch kommt es durch diese Krafteinwirkung zu einer Dorsalisierung der Crista iliaca rechts. Als Konsequenz wird sich in naher Folge die Crista iliaca links in eine ventrale Richtung kompensatorisch fixieren. Das nenne ich dann eine Beckenringstörung im Sinne der im Titel benannten ISG-Störung. In der weiteren Folge wird sich eine kompensatorische Piriformis-Verkürzung links ausbilden. Beinachsen- asymmetrien mit ebenfalls kompensatorischer Fibula proximal mit Dorsalisierung treten später mit auf. Zu beobachten waren skoliotische Oberkörperkompensierungen bis hin zu Schulter-Nacken-Störungen und craniomandibulärer Dysfunktion (CMD). Wichtig für die Erkennung dieser Problematik ist die von mir so benannte Frühanamnese: Ich befrage meine Patienten auch über traumatische Ereignisse, die bis in die Kindheit zurückreichen können. Vielen Menschen ist gar nicht mehr bewusst, dass beispielsweise ihr Skisturz vor 25 Jahren mit ihren jetzigen Beschwerden zusammenhängen können. Sie selbst hatten das möglicherweise bereits vergessen, ihr Becken aber nicht! Oben beschriebenes Geschehen hatte sich manifestiert. In der aktuellen Anamnese klagt der Betroffene über diffuse, ziehende Schmerzen im Gesäß und hinteren Oberschenkel links und Leistenschmerzen rechts. Diese Schmerzen sind pseudoradikulär, sie haben nichts mit den Bandscheiben (radikulär) zu tun. Darüber hinaus kann sich ein „Giving Way“ des rechten Knies infolge der Fibula-Dysfunktion entwickeln. Häufig wird eine Schmerzverstärkung im Ruhezustand beschrieben, die sich bei Bewegung verliert. Meine Arbeitshypothese hierzu: Ein blockiertes Becken sucht Bewegung, eine bandscheibenbedingte Störung der LWS sucht Ruhe! Die Inspektion als Sichtbefund zeigt eine Standbeinbelastung rechts mit Überstreckung des Knies und eine Spielbeinbelastung links mit leichter Beugetendenz auf. Schmerzsymptomatik Schmerzen infolge einer ISG-Blockierung sind pseudoradikulär, da sie nicht bandscheibenbedingt (radikulär) sind. Sie sind heftig (VAS 7–10), flächig und diffus. In ihrer Ausbreitung können sie das Gesäß, den hinteren Oberschenkel oder auch die Leistengegend erfassen. Bei anhaltender Blockierung können auch Schmerzen im Musculus erector spinae, dem Musculus quadratus lumborum und in der aufsteigenden Muskelkette beobachtet werden. Der Betroffene vermeidet ruckhafte Bewegungen, lange Schritte sowie eine ausladende Abduktion oder Adduktion, da sie die Schmerzen verstärken können. >> Die Folgen einer ISG-Blockierung nach einem Sturz – ein Fallbeispiel Diagnostik, Therapie und Hausübungsprogramm im Rahmen der Physiotherapie Gabriele Kiesling I Physiotherapie-Expertin, Buchautorin und AGR-Fördermitglied
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