AGR aktuell Ausgabe 71

67 AGR aktuell 2024/71 | Aktion Gesunder Rücken e. V. wurde klar, dass die Sitzgymnastik dagegen wenig helfen konnte. „Sturzprävention“ wurde zu der Zeit wohl thematisiert, bezog sich jedoch auf äußere Faktoren wie Stolperfallen im Haus und beim Mobiliar, nicht aber auf die Ursachen, die im Zustand und Verhalten der Senior:innen selbst lagen. Warum fielen die Senior:innen ständig hin? Und warum mit so schwerwiegenden Folgen? Ich erarbeitete ein Konzept, in dem die Schwerpunkte außer auf Krafttraining, Mobilisation und Koordination auch auf Propriozeption und speziellen Übungen für das Gleichgewicht liegen. Die Teilnehmenden mussten also auf die Beine kommen. Dieses Konzept wurde von der Heimleitung angenommen und es wurde ein großer Erfolg. Die Gruppe war gut besucht, die Teilnehmenden fühlten sich durch das Training gefordert und ernst genommen und sie hatten sogar Spaß an den spielerischen Experimenten, mit denen ich versuchte, sie aus der Reserve zu locken, sodass sie sich wieder mehr (zu-)trauten. Tatsächlich stürzten die Teilnehmenden dieser Gruppe, das Training fand zweimal pro Woche statt, weniger, und falls doch, weniger dramatisch. Mir war diese Arbeit eine große Freude, dennoch gab ich sie nach zehn Jahren schweren Herzens auf, was den immer ungünstiger werdenden Arbeitsbedingungen in dem Seniorenheim geschuldet war. Motivierte Senior:innen in der Volkshochschule In der Volkshochschule Düsseldorf fand ich ein neues Tätigkeitsfeld. Das Angebot „Sturzprävention“ hatte es an diesem Standort bis dahin noch nicht gegeben, ich hatte also völlige Freiheit, die Stunden auf der Basis meiner Erfahrungen und Erkenntnisse zu gestalten. Hier arbeite ich mit Menschen, die zum Teil hochbetagt sind und böse Sturzerfahrungen hinter sich haben, die aber selbstständig zuhause leben. Da sie sich diese Selbstständigkeit erhalten wollen, bringen sie ein hohes Maß an Motivation mit. In der großen Halle mit vielen Materialien zum Trainieren und Balancieren gibt es für die Teilnehmenden (zehn bis zwölf pro Gruppe) vielfältige Möglichkeiten, sich in unterschiedlichen Situationen auszuprobieren und sich mit wechselnden Anforderungen auseinanderzusetzen. Das Training beginnt mit freiem Bewegen im Raum zu flotter Musik, um bewusst das eigene Gehen zu erleben, mit sich selbst in Kontakt zu kommen. Es folgen sensomotorische Übungen im Stehen (evtl. mit Festhalten am Stuhl) für Koordination und Gleichgewicht. Sehr empfehlenswert ist hierfür der Einsatz von Balance Pads, die auf sanfte, aber sehr effektive Weise das kinästhetische Training intensivieren. Bei den Gruppen, bei denen die Teilnehmenden nicht mehr selbstständig auf den Boden können, wird das Krafttraining mit Kleingeräten im Sitzen durchgeführt. Bei den Teilnehmenden, bei denen Levelwechsel noch möglich sind, wird auf der Matte geübt. Der Schlussteil besteht aus eher spielerischen Übungen mit Bällen, Reifen, Stäben etc. für Koordination, Reaktion und Balance. Dabei versuchen wir häufig, Alltagssituationen wie den Straßenverkehr oder eine Fußgängerzone zu simulieren, um das Geübte aus der Versuchssituation herauszulösen und krisenfest werden zu lassen. Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten stärken Da jeder Sturz, besonders wenn er schwerwiegende Verletzungen mit sich gebracht hat, ein Trauma darstellt, ist es mir wichtig, eine Atmosphäre zu schaffen, in der angstfrei und ohne Leistungsdruck geübt werden kann. Die Ich-Kompetenz der Teilnehmenden steht an erster Stelle. Sie sollen wieder mehr Vertrauen zu ihren Fähigkeiten gewinnen, Warnsignale ihres Körpers wahr- und ernstnehmen, ihre Grenzen zwar respektieren, sich aber nicht von ihnen einengen lassen, sondern sie behutsam erweitern. Dass dies eine sinnvolle Arbeit ist, bestätigt sich für mich, wenn Teilnehmende berichten, dass sie sich im Alltag wieder sicherer fühlen, sich angstfreier bewegen, dass sie kleine Übungen in ihre tägliche Routine eingebaut haben (Zähneputzen im Einbeinstand, Balancieren auf der Teppichkante), oder sogar drohende Stürze durch adäquates Reagieren abwenden konnten. Besonders freut mich, mit wie viel Spaß, aber auch Mut die Menschen bei der Sache sind. Claudia Kammerichs Staatlich geprüfte Gymnastiklehrerin BdR-Mitglied 40625 Düsseldorf C.Kammerichs@t-online.de www.claudia-kammerichs.de

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