agr-aktuell-66

35 Interdisziplinäre Fachbeiträge AGR aktuell 2021/66 | Aktion Gesunder Rücken e. V. Wie Stress zu Schmerz wird Unser Organismus ist daran interessiert, sei- ne Homöostase stets aufrechtzuerhalten und größere Schwankungen in Körperfunktionen zu vermeiden. Ist der wahrgenommene Stress zu gering, kann das daher sogar zu negativen Aspekten wie Leistungsschwäche und psycho- physischem Abbau führen (McEwen u. Stellar 1993). Häufig ist aber weniger der Mangel, sondern vielmehr ein Überschuss an Stresso- ren eine gängige Herausforderung und damit einhergehend eine erhöhte allostatische Last abträglich für zahlreiche Körperfunktionen wie auch das Nervensystem. Im Detail liegt die Schnittstelle aus der Ent- stehung von physischem Schmerz und psy- chischem Stress verschiedenen Mechanismen zugrunde. So verändert Stress über verschie- dene Signalwege die Wahrnehmung, Verar- beitung und Interpretation von Schmerzen sowie die Aktivität des Nervensystems und die Schmerzsensitivität (Wippert u. Wiebking 2018). Damit kann Stress direkt und indirekt Einfluss auf die Entstehung körperlicher Schmerzen nehmen und bildet somit einen Ansatzpunkt für deren Behandlung. Wie Schmerz zu Stress wird Allerdings ist der oben beschriebene Patho- mechanismus keine Einbahnstraße. So führt körperlicher Schmerz nicht selten wiederum zu noch mehr psychischem Stress. Studien konnten zeigen, dass sich Gehirnareale von chronischen Rückenschmerzpatienten plas- tisch verändern. Die strukturellen Modulatio- nen auf Ebene der Inselrinde, des somatosen- sorischen Kortex, dem Temporallappen und dem dorsolateralen präfrontalen Kortex auf der einen Seite, stehen psychologischen Aus- wirkungen auf der anderen Seite gegenüber. Diese sind unter anderem: { { verstärkte Ängste oder Depressionen { { verringerte Aufmerksamkeit { { Veränderungen im Belohnungssystem { { verminderte Interozeption (Wahrnehmung körpereigener Signale) { { Gedächtnis- und Konzentrationsschwäche { { verändertes Schlafverhalten { { Schmerzvermeidungsverhalten und schmerzassoziiertes Lernen Anhand dieser Auswirkungen ist es nahe- liegend, dass Schmerz neben körperlichen Einschränkungen auch psychischen Stress verursachen kann, was wiederum die Schmerz- sensitivität herabsetzt. Dieser selbstverstär- kende Kreislauf wird auch als „Wind-up“ be- zeichnet und stellt Betroffene vor große Her- ausforderungen (Wippert u. Wiebking 2018). Damit der Ausbruch aus dem Teufelskreis gelingen kann, stellen immer mehr wissen- schaftliche Untersuchungen und positive Erfahrungen aus der Praxis, die Kontrolle des autonomen Nervensystems, insbesondere des Nervus vagus, in das Zentrum der Auf- merksamkeit. Der Nervus vagus Der Nervus vagus, der wörtlich „der umher- schweifende Nerv“ heißt, ist auch bekannt als Hirnnerv X und gleichzeitig der wichtigste Nerv des Parasympathikus. Der Parasympa- thikus seinerseits ist der Teil des autonomen Nervensystems, der vereinfacht gesagt die Entspannung und Regeneration des Körpers steuert. Der Vagusnerv erhielt seinen Namen durch die starke Verästelung im gesamten Körper und die innervierende Funktion zahl- reicher Gewebe. Anhand der dargestellten Zusammenhänge aus Stress und Schmerz, ist der Nervus vagus ein aussichtsreicher An- satzpunkt für die Behandlung. Einerseits sind die sogenannten absteigenden Fasern dafür zuständig, autonome Prozesse wie die Funk- tion innerer Organe zu steuern, aber auch entzündungshemmende Signale zu vermit- teln. Andererseits stellt die Interozeption als Wahrnehmung und Regulation der inneren Zustände eine zentrale Aufgabe des Nervus vagus dar. Da Entzündungen neben zahlreichenweiteren Beschwerdebildern auch bei Rückenschmer- zen ein wichtiger Bestandteil sind und eine gestörte Interozeption durch (schmerzbeding- ten) Stress ein bekanntes Symptom darstellt, nimmt der Vagusnerv bei Rückenschmerzen eine Schlüsselrolle ein. In diesem Zusammen- hang vermag eine gezielte Aktivierung des Vagusnervs verminderte Entzündungsreak- tionen und Schmerzsensitivität auszulösen (Lienhard et al. 2019). Schmerz und psychischer Stress beeinflussen sich gegenseitig (Wind-up). Sowohl ein zu niedriger als auch ein zu hoher Stresslevel haben negative Auswirkungen auf die psychophysischen Körperfunktionen (McEwen u. Stellar 1993). Ermüdung Erschöpfung Optimum geringe Einsatz- bereitschaft Leistung Zusammenbruch Überforderung Unterforderung niedrig hoch Stresslevel

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